Lovecraft-Horror-Orgie von Alan Moore & Jacen Burrows.
Alan Moore ist bekanntlich hauptberuflicher Exzentriker. Auf der einen Seite ist er der vielleicht größte Titan des modernen Comics, andererseits ist er über die letzten Jahrzehnte immer mehr zum grummeligen Eigenbrötler geworden. Schuld daran war die Verfilmung von seinen Meisterwerken V for Vendetta (2005) oder auch Watchmen (2009), gegen die er sich mit allen Mitteln wehrte – wobei er schlussendlich sowohl auf eine Entfernung aus den Credits als auch einen kompletten Verzicht auf Einnahmen in Millionenhöhe bestand. Der Grund für diese Entscheidung findet sich in seinem lebenslangen Kampf für die Anerkennung des Comics als eigenständiges, erwachsenes Medium für Geschichten, die eben nicht einfach auf die Leinwand übertragen werden können. Als er sich ernüchtert und pleite auf der Verliererseite dieses Kampfes wiederfand, schrieb er sein vielleicht düsterstes, menschenfeindlichstes Material – scheinbar als Protest gegen die Hochglanzproduktionen, zu denen Hollywood seine Arbeit verwurstet hatte. Das Ergebnis ist ein verstörend-expliziter Blutrausch aus Sex, Gewalt und – naja – sexueller Gewalt, welcher so weit wie möglich von Kinderaugen ferngehalten gehört. Aber wir sind ja schon groß, ne?
Wie der Name schon suggeriert, ist das Neonomicon eine Art moderner Remix der Gedankenwelten des Horror-Urvaters H.P. Lovecraft, spezifisch von Geschichten wie Call of Cthulhu oder Shadow over Innsmouth, in welchen die Protagonisten über die Spuren jahrtausendealter Verschwörungen und Kulte außerirdischer Götter stolpern, die in den Schatten der Zivilisation den Untergang der menschlichen Rasse und die Auferstehung der Großen Alten orchestrieren. Während Lovecraft selbst zwar in blumigen Details über Detektivarbeit, Architektur, Kunst und den kosmischen Terror schrieb, wurde er in den Beschreibungen der schrecklichen Rituale seiner Cthulhu-Kultisten immer etwas wortkarg – was ja grundsätzlich ein guter Kniff für die angehenden Horror-Autoren da draußen ist: Wenn du nur von „Namenlosen Ritualen“ sprichst, füllt dein Publikum die Lücken mit schattenhaften Bildern von grotesken Blutriten und gottlosen Orgien, in welchen Menschen sich mit Monstern vermischen: Das Ergebnis wird immer viel gruseliger als eine explizite Beschreibung sein. Der geneigte Lovecraft-Jünger weiß jedoch auch, dass das Umschiffen dieser Themen seiner Scheu vor Sexualität verschuldet war – und nur an der Oberfläche seiner Neurosen und Ängste, nicht zuletzt auch seinem Rassismus, kratzte.
Alan Moores Ansatz für sein Neonomicon ist es nun, all dieses „namenlose“ Grauen ins Licht zu zerren und brutal vor den Augen seiner Leserschaft bis zum bitteren Ende durchzuspielen. In seinen eigenen Worten:
It was pretty obvious, given that a lot of his stories detailed the inhuman offspring of these ‘blasphemous rituals’ that sex was probably involved somewhere along the line. But that never used to feature in Lovecraft’s stories, except as a kind of suggested undercurrent. So I thought, let’s put all of the unpleasant racial stuff back in, let’s put sex back in. Let’s come up with some genuinely ‘nameless rituals’- let’s give them a name.
– Alan Moore im Interview mit Bram Gieben
Der Plot des Neonomicon (seinerseits ein loses Sequel zu Moores The Courtyard) beginnt mit der im Realismus moderner Police Proceduals geerdeten Polizeiarbeit der FBI-Agenten Merril Brears und Gordon Lamper, welche einer Serie von Ritualmorden auf der Spur sind. Ihre Fährte führt sie nach Salem, der Vorlage für Lovecrafts Innsmouth, wo sie in die Fänge des Esoterischen Ordens des Dagon geraten. Die expliziten Bilder des folgenden Schreckens stammen aus der Feder von Jacen Burrows, welcher bereits in der Vergangenheit mit Alan Moore und Warren Ellis gearbeitet hat, den Gore-Freunden da draußen aber vor allem für die schonungslos überdrehten und magenverknotenden Gewaltdarstellungen in Garth Ennis‘ Crossed bekannt sein dürfte. Die hier in vollem Detail eingefangenen Perversionen sind dabei nicht minder verstörend, reiten aber stets an der Grenze der pornographischen Zelebrierung von Sex und Gewalt, ohne sie wirklich zu überschreiten – im Vordergrund steht noch immer der menschliche (und kosmische) Horror.
Der Grund, aus dem ich das Neonomicon empfehlen möchte, ist jedoch der clevere Umgang mit dem Quellmaterial, den Horrorgeschichten von H.P. Lovecraft und den Texten seiner Vorbilder und Jünger, welche in diversen Formen zitiert werden. So führen die Nachforschungen unsere Agenten in einen Nachtclub namens Zothique, welcher sich in einer verlassenen Kirche eingenistet hat. Dort suchen sie einen mysteriösen Mann namens Carcosa, stoßen aber auf eine versammelte Meute aus modernen Kultisten, welche Bands mit Namen wie „Rats in the Malls“ abfeiern, deren Songs mit ebenso billigen Lovecraft-Wortspielereien überfrachtet sind:
Als die Anzahl an Zitaten kritische Masse erreicht, passiert jedoch etwas ganz wundervolles: Agent Brears wittert auf einmal den Braten und fängt an, sich selbst mit den Geschichten von H.P. Lovecraft auseinanderzusetzen. Daraufhin stößt sie auf eine sehr lebendige Subkultur aus Leseratten, Rollenspielern und ja – auch richtigen Kultisten, die in Läden voller Plüsch-Cthulhus, Spielerhandbücher und tentakelförmigem Sexspielzeug zuhause sind. Und genau dieses Spiel mit Intertextualität und den verschwimmenden Linien zwischen Fiktion und Realität, wie es Lovecraft schon vor hundert Jahren mit dem freien Zitieren aus dem vermeintlich realen Necronomicon betrieb und durch die Förderung seiner Nachahmer ermutigte, macht Alan Moores Arbeit hier zu einem cleveren kleinen Liebesbrief an sein Vorbild: War Lovecraft nun Horror-Autor, Medium, Sektenführer oder Spinner?
Zudem liefert das Neonomicon ein sehr spannendes Ende, welches die Werke Lovecrafts auf interessante Weise rekontextualisiert und unter ein neues Licht schiebt. Wer sich also nicht vor expliziter sexueller Gewalt scheut und ohnehin schon ein Lovecraft-Freund ist, sollte hier unbedingt zugreifen. Zartere Gemüter lesen lieber erst einmal die Kurzgeschichten des Meisters – und lassen ihren Verstand dann trotzdem in schlaflosen Nächten Schreckensszenarien ausmalen, die viel schlimmer sind als alles, was Moore und Burrows hier in auf die Seiten bringen.
Das Neonomicon gibt es auf Amazon:
Lovecraft-Neulingen lege ich diese Kurzgeschichtensammlung ans Herz: