House of Leaves

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Literarisches Horror-Puzzle von Mark Z. Danielewski.

This is not for you.

Dieser Satz steht drohend, aber auch herausfordernd auf der ansonsten völlig leeren ersten Seite von Danielewskis Roman. Ein schnelles Durchblättern der folgenden Seiten, deren Layout mal geordnet, mal in Form und Farbe wild aufgebrochen und durch eine Vielzahl voneinander unabhängiger Textstränge chaotisch zerrissen scheint, macht schnell deutlich: Dies ist kein gewöhnliches Buch mit einer linearen Narrative. Es ist ein Rätsel, ein Geheimnis, aber eines von der Sorte, die nicht gelöst werden will, vielleicht gar nicht gelöst werden sollte. Und je tiefer man in diese Mysterien hinabsteigt, desto mehr nistet sich der kriechende Schrecken fetzenhafter Erkenntnis im Hinterkopf ein. Bitte lies nicht weiter.


Im Zentrum des verworrenen Knotens aus Erzählungen, die House of Leaves ausmachen, steht der Navidson Report, ein Dokumentarfilm des Photojournalisten Will Navidson, der mit seiner Kamera den Umzug seiner Familie in ein neues Haus in Virginia dokumentiert. Im Laufe seiner Aufnahmen verändert sich die Geographie des Hauses jedoch auf merkwürdige Weise: Türen erscheinen an vormals kahlen Wänden. Die Innenwände erweisen sich auch nach mehrmaligem Messen als länger als die Außenwände. Und dann ist da noch eine Tür, welche eigentlich in den Garten führen sollte, aber stattdessen in einen unmöglich langen, kalten und dunklen Korridor führt. Mit seiner Kamera unternimmt er eine Expedition hinab in diesen Gang. Und während er immer weiter in die Finsternis vordringt, kommt ihm eine schreckliche Ahnung: Er ist dort nicht allein.

Die Geschichte des unter Experten mittlerweile berüchtigten und hinsichtlich seiner Authentizität stark umstrittenen Navidson Reports wird uns durch die Aufzeichnungen des mysteriösen alten Einsiedlers Zampanò erzählt, der die dargestellten Bilder in Worte fasst und mit seiner Ansicht nach relevanten Exkursen über Architektur, Filmkunst oder Mythologie annotiert. Dass Zampanò blind ist und demzufolge die auf den Videobändern dargestellten Ereignisse gar nicht beschreiben könnte, ist nur der Beginn der rätselhaften Geheimnisse, die den alten Mann umranken. Seine Ausführungen lassen jedoch darauf schließen, dass er ein gebildeter Experte vieler Wissenschaften ist, der von den Aufnahmen fasziniert, besessen und erschüttert war.

Diese beiden Narrativen werden eingerahmt von dem jungen Tätowierer Johnny Truant, der nach dem Tod Zampanòs auf dessen Aufzeichnungen stößt. Er arbeitet dieses Manusktipt durch und füllt es mit seinen eigenen Anmerkungen, die seinen Lebenswandel von einem selbstzerstörerischen Rausch aus Sex und Drogen bis hin zum Realitätsverlust und der völligen Besessenheit mit den Notizen über das Haus beschreiben. Seine Geschichte beginnt den Roman – aus seiner Perspektive arbeiten wir uns durch die wirren Ebenen des Textes zu den Wahrheiten und Fiktionen in seinem Herzen vor. Da aber schon früh klar ist, dass Johnny nicht mehr ganz zurechnungsfähig ist, steht der von ihm bearbeitete Text in einem ganz schön zweifelhaften Licht da. Trotzdem ist da noch die Stimme eines Lektors, der Johnnys Ausführungen mit redaktionellen Anmerkungen und Korrekturen versieht.

 

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House of Leaves ist weder leicht bekömmlich noch leicht verdaulich. Es besteht aus erzählerischen Versatzstücken, die in immer komplexeren Mustern ineinander verschachtelt werden. Unterschiedliche Schriftarten, Farben oder Layouts markieren die Stimmen der vielen Erzähler. Codes und Fragmente in Fremdsprachen laden zum Entschlüsseln ein. Fußnoten treten ins Gespräch miteinander oder erstrecken sich über mehrere Seiten. Mit der zunehmenden Traumatisierung der Figuren beginnt auch der Text, sich wirr um sich selbst zu falten. Wie das dunkle Labyrinth im Haus der Navidsons ist es auf morbide Weise faszinierend, aber nahezu unmöglich zu navigieren. Die Stimmen der Erzähler vermischen sich, existieren mal nebeneinander, mal untereinander, klagen sich gegenseitig zweifelnd an oder überschneiden sich in einer zerstörerischen Abwärtsspirale.

Auf der einen Seite ist es ein Horror-Roman für Literaturwissenschafts-Nerds, die gerne die gestalterischen und erzählerischen Aspekte eines Texts aufbröseln und bestaunen. Andererseits ist es auch ein schlauer Aufsatz über Fiktionalität, Realitätsstrukturen und den künstlerischen Schöpfungs- und Rezeptionsprozess. Es braucht ein paar Anläufe, um sich in dem Buchstabendickicht zurechtzufinden, aber wenn man erstmal vom schwarzen Zauber des Hauses verhext wurde, brütet man bis in die frühen Morgenstunden über den Seiten.

Tief unter der Oberfläche liegt jedoch eine zutiefst menschliche Tätigkeit: Die Trauerarbeit eines Geschwisterpaares, das seinen Vater verloren hat. House of Leaves ist Danielewskis Vater gewidmet, der als Filmemacher seinen Kindern Fragmemte, Texte und Aufnahmen hinterließ, die von ihnen aufgeschlüsselt und zusammengesetzt werden mussten – auf der Suche nach dem Menschenleben, welches sich hinter den Rätseln verbarg, aber auch auf der Suche nach einem schmerzhaften Schlussstrich. Danielewskis Schwester, die Popsängerin Poe, verarbeitete die Trauer in ihrer Musik: Ihr Album Haunted enthält neben Tonaufnahmen ihres Vaters auch diverse Zitate und Verweise auf das Buch ihres Bruders, welches sie somit durch ihre eigenen Annotationen ergänzt.

Ich würde House of Leaves ja an die Freaks da draußen weiterempfehlen, aber vertraut mir: Es ist nicht für euch. Lasst euch nicht darauf ein. Ich bin seit zwei Wochen wach, weil mich die Seiten nicht schlafen lassen. Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe. Vor vier Tagen haben sie mir den Strom abgestellt. Ich habe das verdammte Buch für Licht und Wärme verbrannt, aber lese es noch immer. Die Tür meines Zimmers führt nicht mehr nach draußen.

 

 


House of Leaves (deutsch und englisch) und das Album von Poe gibt es auf Amazon:

House of Leaves
Das Haus
Poe: Haunted

6 Gedanken zu “House of Leaves

  1. Ich

    Feine Sache das. 🙂 Im übrigen hab ich her noch House of Leaves als Hörbuch / Hörspiel hier rumliegen und ist tatsächlich sehr gut gemacht. Wenn ich es nur finden würde. 😦

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    1. Das ist das erste Mal, dass ich von ner Hörbuch-Version erfahre. Die muss entweder extrem abgefahren oder absolut unzulänglich sein, weil dieses Buch so viel mit seinem Layout und parallelen Texten spielt. Muss ich mich mal mit beschäftigen, danke! 🙂

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  2. Oh, als Freak habe ich davon natürlich schon oft gehört und bin schon etwas fasziniert. Schöner Artikel jedenfalls, der die Faszination weiter schürt.
    Ist der Text als solcher denn halbwegs lesbar oder geht er ähnlich wie bei „Zettels Traum“ vollkommen in sich verloren? Das wäre sogar mir dann zu hart. 😉

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    1. Es verliert sich niemals in sinnlosem Kauderwelsch. Die Schwierigkeit beim Lesen ist eher, die verschiedenen Stimmen für sich zu sortieren – und die hin und wieder auftauchenden Fachtexte entweder wirklich zu sezieren oder nur zu überfliegen. Wer schon ein paar wissenschaftliche Arbeiten gelesen hat, sollte sich aber nicht abschrecken lassen – die sind schon sehr spannend und haben immer was mit der „Handlung“ zu tun. 🙂

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  3. christianneffe

    Sehr schöne Kritik! Habe mich auch gefühlte Ewigkeiten durch das Buch gekämpft und weiß immer noch nicht so richtig, was ich mit der „Auflösung“ anfangen soll ^^
    Ist übrigens auch für Filmnerds interessant, da es sich über weite Strecken wie eine Filmanalyse liest.

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  4. Was mich an House of Leaves am meisten fasziniert hat, war, dass ich erst nach dem dritten Lesen sicher war, alles gelesen zu haben. Nun bin ich zwar auch Literaturwissenschaftler, aber ich glaube, es hätte mich auch so fasziniert.
    Als nächstes sollte ich mir wohl mal Das Schiff des Theseus zulegen. Das soll House of Leaves noch auf die Spitze treiben.

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